Zusammenleben

Gewalt gegen Senioren: Werden Sie zum Beobachter

Seniorinnen und Senioren können verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt sein. Misshandlungen und Übergriffe kommen nicht nur in privaten, sondern auch in öffentlichen Räumen vor. Es ist für die Familienangehörigen oft schwierig herauszufinden, ob die Eltern Opfer von Gewalt geworden sind. Mit einigen Fragen können Sie feststellen, ob sie sofort Hilfe benötigen.

Jede fünfte ältere Person erlebt Gewalt oder und Vernachlässigung.
Jede fünfte ältere Person erlebt Gewalt oder Vernachlässigung. © Hartmut Kosig / iStock / Getty Images Plus

Gewalt im Alter – das Wichtigste im Alter:

  • Häufig kommt es in den eigenen vier Wänden zu Gewaltsituationen. Wann spricht man von Gewalt?
  • Wer in der Betreuung überfordert ist, wenig Schlaf hat und kaum mehr Zeit für sich hat, kann zu Gewalt neigen. Erfahren Sie hier mehr. Wer Gewalt ausübt?
  • Es gibt Warnzeichen, die auf Gewalt auf eine ältere Person hindeuten. Worauf Sie achten sollten
  • Mit gezielten Fragen können Sie herausfinden, ob Ihre Liebsten Gewalt erfahren. Zu den Fragen
  • Wer einen Verdacht auf häusliche Gewalt hat, sollte immer handeln und sich an eine Anlaufstelle wenden. Wo Sie Hilfe finden

Obwohl Überforderung bei Betreuungspersonen keine Seltenheit ist, wird Gewalt im Alter kaum thematisiert – es ist ein Tabuthema. Laut Schätzungen des Bundesamtes für Sozialversicherungen werden jährlich zwischen 300 000 bis 500 000 Personen ab 60 Jahren Opfer von Gewalt und Vernachlässigung. Jeder fünfte ältere Mensch ist betroffen. Die Dunkelziffer ist sehr hoch, da viele Fälle nicht angezeigt oder aufgedeckt werden. Die nationale Hotline «Alter ohne Gewalt» hat im Jahr 2021 insgesamt 211 Telefonate registriert. In der Mehrzahl der Fälle fanden Gewaltsituationen in der eigenen Wohnung statt, bei 10 Prozent in Institutionen wie Heimen.

Definition: Was gehört zu psychischer Gewalt?

Von Gewalt im Alter spricht man, wenn ältere Personen innerhalb einer bestehenden oder ausgelösten ehelichen, eheähnlichen oder familiären Beziehung psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren oder diese androht wird. Typisch ist die emotionale Nähe der Betroffenen.

Wie fängt Gewalt an?

Gewalt im Alter findet in verschiedenen Formen statt:

Körperliche Misshandlungen

Eine Person verletzt eine andere körperlich. Sie fügt ihr unnötige Schmerzen zu, indem sie sie grob zerrt, schlägt oder schüttelt. Sie verweigert der Person Medikamente, Lebensmittel oder Getränke zu geben oder entfernt Hilfsmittel. Sie gibt keine Medikamente ab oder verabreicht sie überdosiert. Sie beraubt die Freiheit der Person, indem sie sie zum Beispiel einsperrt oder ans Bett fesselt.

Psychische oder emotionale Misshandlungen

Die Person greift die andere verbal oder nonverbal an und setzt deren Selbstbewusstsein und Würde ab. Sie jagt ihr Angst ein und bedroht sie. Sie redet ihr ständig ein schlechtes Gewissen ein, beleidigt oder demütigt sie und behandelt sie wie ein kleines Kind. Sie untersagt Besuche, verweigert eine Kommunikation und bestraft sie mit Schweigen und versteckt Post wie Briefe und Pakete.

Sexueller Missbrauch

Die Person zwingt die andere zum Geschlechtsverkehr oder verlangt von ihr andere sexuelle Handlungen und zwingt sie zu unangenehmen Berührungen.

Vernachlässigung

Die Person erledigt wichtige Aufgaben in der Betreuung nur schlecht. Sie kauft keine Lebensmittel ein, vereitelt notwendige Arztbesuche und Spitex-Einsätze, sie unterlässt es, die betroffene Person zu pflegen, indem sie zum Beispiel Inkontinenzeinlagen nicht wechselt und den Körper nicht reinigt. Sie lässt es zu, dass die Wohnung des Betroffenen verwahrlost, verweigert Hilfe, wenn sie darum gebeten wird und ignoriert persönliche Bedürfnisse wie geistige und kulturelle Anregungen oder Fernsehschauen. Sie setzt die betroffene Person irgendwo ab und holt sie danach nicht mehr ab.

Finanzieller oder materieller Missbrauch

Die Person unterschlägt Geld, entnimmt Geld aus dem Portmonee des anderen, unterschreibt Verträge zum Nachteil des anderen, konsumiert gegen den Willen des anderen seine Nahrungsmittel und benützt seine Gegenstände.

Wer übt Gewalt aus?

Gewalt kann von Angehörigen, Zugehörigen oder von der älteren Person selbst ausgeübt werden. Beispiele:

  • Die Tochter schliesst ihren betagten Vater in seiner Wohnung ein, damit dieser nicht wegläuft, während sie arbeiten geht
  • Der Ehemann weigert sich, seine demente Ehefrau zu baden
  • Die betagte Mutter wird von  ihrer Tochter aufs Übelste beschimpft.

Ein Risiko gegenüber älteren Menschen gewalttätig zu werden, haben Menschen, die:

  • überfordert mit der Betreuung sind
  • unter Schlafmangel und fehlender Freizeit leiden
  • sich hilflos fühlen
  • psychisch krank oder drogenabhängig sind
  • auch ausserhalb der Betreuungssituation zu Gewalt neigen
  • finanziell abhängig sind von der zu betreuenden Person
  • im gleichen Haushalt leben
  • sich in einem langen andauernden, ungelösten Konflikt mit der älteren Person befinden
  • eine «Gewalttradition» aus Kindertagen kennen
  • ständig provoziert werden von der pflegebedürftigen Person
  • sich immer wieder Vorwürfe von der pflegebedürftigen Person anhören müssen
  • von der pflegebedürftigen Person Gewalt erfahren (z.B. mit Schlägen beim Versuch zur Körperpflege).

Wer ist am stärksten betroffen von Gewalt?

Meist findet die Gewalt immer wieder statt, es handelt sich selten um einmalige Übergriffe. Am stärksten gefährdet sind:

  • Personen, die Pflege benötigen
  • Personen, die im Haushalt Hilfe brauchen
  • Personen, die dement oder geistig eingeschränkt sind
  • Personen, die mit der betagten Person im gleichen Haushalt leben.

Was ist zu tun, bei einem Verdacht?

Es gibt Warnzeichen, die auf Gewalt auf eine ältere Person hindeuten. Achten Sie auf folgende Punkte:

  • Die betroffene Person möchte nicht von der Person behandelt werden
  • Die betroffene Person ist verletzt und weist Verletzungen wie Hautschürfungen, Verbrennungen oder Frakturen auf
  • Die betroffene Person ist mangelernährt, die verschriebenen Medikament werden nicht eingenommen
    die Person wird sozial isoliert.

Warnzeichen sind aber keine Beweise von Gewalteinwirkung. Fragen Sie bei der betroffenen Person Vorsicht nach und beobachten Sie sie genau. Albert Wettstein von der  UBA (Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter) empfiehlt bei urteilsfähigen Personen nachstehende Fragen zu stellen. Die Fragen stammen vom sogenannten Elder Abuse Suspicion Index, eine Liste aus Fragen, die das Ziel haben, den Verdacht auf Misshandlung älterer Menschen zu eruieren und zu entscheiden, ob der Fall den Behörden gemeldet werden sollte. Wenn mindestens eine Frage der Fragen 2-5 mit «Ja» beantwortet wird, sollte man handeln und sich an eine Fachstelle, wie die UBA wenden. Dies kann in einem ersten Schritt auch anonym erfolgen.

  • Benötigst du Hilfe von anderen für eine der folgenden Aufgaben: Baden, Ankleiden, Einkaufen, Mahlzeiten zubereiten, Rechnungen bezahlen?

•       Hat dir jemand je Essen, Medikamente, Hörgerät, Brille oder medizinische Pflege vorenthalten oder dich daran gehindert, andere Menschen zu treffen?

•       Warst du je aufgewühlt, weil jemand auf eine bestimmte Weise mit dir geredet hat oder umgegangen ist, dass du dich schämen musstest oder du dich von der Person bedroht gefühlt hast?  

•       Hat dich jemand gezwungen, dein Geld anders zu gebrauchen, als du wollest, oder musstest du bestimmte Papiere gegen deinen Willen unterschreiben?  

•       Hast du Angst vor jemanden oder hat dich jemand auf eine Art berührt, die du nicht mochtest? Oder hat dich jemand verletzt?

Wo kann ich Hilfe holen?

Gewalt an älteren Menschen auch innerhalb der Familie ist nie akzeptabel. Betroffenen gelingt es häufig nicht, sich aus der Gewaltsituation zu befreien. Wer unter häuslicher Gewalt leidet, schämt sich häufig und hat Angst. Die Hürden sind gross, sich helfen zu lassen. Wer einen Verdacht auf häusliche Gewalt hat, sollte immer handeln und sich an eine Anlaufstelle wenden:

Albert Wettstein sagt: «Häufig sind nahestehende Angehörige mit der Pflege überfordert und werden darum gewalttätig. Ich empfehle Familienmitgliedern schwer pflegebedürftige Angehörige nur kurzfristig allein zu pflegen und betreuen. Langfristig sollten Pflegeorganisationen wie die Spitex den Hauptteil der Pflege von Angehörigen übernehmen.»

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