Zusammenleben

Wesensveränderung im Alter: Was steckt hinter Altersstarrsinn?

Seniorinnen und Senioren beschimpfen plötzlich die eigenen Kinder, Enkel oder Pflegende, reagieren stur und ziehen sich zurück: Dieses Verhalten wird oft als sogenannter Altersstarrsinn abgetan. Doch mit krankhaftem Verhalten hat das nichts zu tun: Es ist eine natürliche Reaktion des Körpers auf Veränderungen im Alter.  Alles, was Sie über Altersstarrsinn wissen müssen und wie Sie in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf bewahren. 

Altersstarrsinn ist eine natürliche Reaktion auf die Veränderungen im Alter.
Altersstarrsinn ist eine natürliche Reaktion auf die Veränderungen im Alter. © kali9 / E+

Altersstarrsinn – das Wichtigste in Kürze:

Wenn Eltern in die Jahre kommen und ihre Gesundheit sowie Beweglichkeit nachlassen, sorgen sich ihre Kinder zunehmend um sie. Sie wünschen nur das Beste für ihre Eltern und denken intensiv über deren Wohlergehen nach. Doch ihre gut gemeinten Ratschläge finden oft kein Gehör. Manchmal könnte dies auf Sturheit im Alter zurückzuführen sein.

Was ist Altersstarrsinn?

«Sei doch nicht so starrsinnig», lautet ein Vorwurf, den sich Menschen anhören müssen, wenn sie an ihrer Meinung festhalten und sich weigern, offen für andere Wege zu sein oder gar umzudenken. Meist ist der Begriff Starrsinn negativ besetzt. Ein starrsinniger Mensch wird als engstirniger Sturkopf angesehen. Doch der Begriff lässt sich auch mit anderen Inhalten füllen: «Da ist jemand von etwas  überzeugt. Da hat jemand einen Standpunkt. Da tritt jemand für seine Bedürfnisse ein.»

Unterschied zwischen Altersstarrsinn und Demenz

Der Begriff Demenz fasst mehr als 100 Krankheiten zusammen. Sie alle beeinträchtigen hauptsächlich das Gedächtnis der betroffenen Person. Altersstarrsinn ist keine Krankheit, sondern lediglich eine Reaktion oder eine Eigenschaft.

So entsteht Altersstarrsinn

Die Wohnung umräumen, um die Sturzgefahr zu mindern? Einen Rollator anschaffen, um das Gehen zu erleichtern? Ein Treppengeländer für mehr Sturzsicherheit anbringen? Einen Gärtner und eine Putzkraft engagieren, um im Haushalt zu entlasten? Vielleicht haben Sie Ihren Eltern auch schon viele gut gemeinte Vorschläge gemacht, die ihnen den Alltag erleichtern sollen. Umso überraschender ist oft die Vehemenz, mit der sie abgelehnt werden. Warum nur?

Wunsch nach Eigenständigkeit

Wenn wir Kinder sind, machen wir die Erfahrung, dass Erwachsene über uns bestimmen. Dagegen wehren wir uns – in der Trotzphase oder in der Wackelzahnpubertät. «Menschen streben nach Eigenständigkeit», sagt Rolf Jud, Psychotherapeut in St. Gallen. «Diese Eigenständigkeit können wir als Erwachsene leben. Doch im Alter, wenn wir hilfsbedürftig werden, wendet sich wieder das Blatt. Dann versuchen wieder andere – etwa Angehörige oder Pflegende – zu bestimmen. Sturheit drückt dann den Wunsch aus, weiter eigenständig zu bleiben.»

Zeichen von Überforderung

Veränderungen brauchen körperliche und geistige Kraft, genau die Kraft, die oft älteren Menschen fehlt. Mit zunehmendem Alter nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass körperliche Fähigkeiten nachlassen. Ältere Menschen hören weniger, sehen schlechter und verlieren Muskelkraft. Auch die geistige Flexibilität kann im Alter abnehmen. Das Festhalten an althergebrachten Lösungen ist ihnen daher oft leichter, als sich auf eine neue Situation einzustellen. Rolf Jud: «Sturheit kann ein Zeichen von Überforderung sein.»

Der Wunsch, den Schein zu bewahren

Wir leben in einer Gesellschaft, die Perfektion hochschätzt. Menschen, die den Idealbildern nicht entsprechen, fühlen sich häufig als weniger wertvoll betrachtet. Daher bemühen sich auch ältere Menschen oft, ihre Leistungsfähigkeit zu demonstrieren, selbst wenn es ihnen nicht leichtfällt.

Darum werden manche Menschen im Alter angriffslustig

Der Begriff Starrsinn wird oft mit einer gewissen Aggressivität assoziiert, die von Angehörigen wahrgenommen wird. Sie können sich durch bestimmte Kommentare, mangelnde Wertschätzung oder einen genervten Unterton verletzt fühlen.

Jedoch ist Aggressivität keine Charaktereigenschaft, die automatisch mit dem Alter einhergeht. Sollte sie dennoch auftreten, kann sie Gefühle widerspiegeln, die im Kontext des Älterwerdens stärker hervortreten:

  • Ständige Schmerzen, etwa durch Verspannungen im Rücken oder durch Rheuma
  • Ärger über langanhaltende Konflikte, die nun eskalieren
  • Enttäuschung darüber, dass das Leben nicht so verlaufen ist, wie man es sich vorgestellt hat
  • Trauer über den Verlust langjähriger Begleiter
  • Sorgen wegen finanzieller Schwierigkeiten
  • Unwohlsein aufgrund von Monotonie im täglichen Leben

Aggressives Verhalten kann auch ein Indiz für Demenz sein. In solchen Fällen kann die Frustration über abnehmende Leistungsfähigkeit zu Unsicherheit führen. Es kann schockierend sein, festzustellen, dass das Kurzzeitgedächtnis schwindet. Oft wird die eigene Hilflosigkeit dann hinter aggressivem Verhalten versteckt.

Welche Verhaltensweisen zeigen ältere Menschen?

Das Alter bringt auch Verhaltensweisen zum Vorschein, die Sie als Angehörige vielleicht als positiv empfinden. So fördert es eine gewisse Milde. Mit zunehmendem Alter neigen Menschen eher dazu, nach einer Kränkung zu verzeihen – so lautet das Ergebnis einer Studie der Universität Heidelberg.

Darum erzählen alte Menschen häufig das Gleiche

  • Im Alter nimmt das Kurzzeitgedächtnis ab, gleichzeitig wird die Vergangenheit lebendiger. Dies führt dazu, dass ältere Menschen oft immer wieder dieselben Geschichten erzählen.
  • Diese Geschichten sind für den Menschen, der sie erzählt, von grosser emotionaler Bedeutung.
  • Ältere Menschen erleben weniger im Alltag als früher. Denn ihre Möglichkeiten, am sozialen Leben teilzunehmen, sind durch körperliche oder geistige Einschränkungen eingeschränkt. So greifen sie auf die Vergangenheit zurück, wenn sie etwas erzählen wollen.

Altersstarrsinn: Das können Angehörige tun

Wie kann man die Situation verbessern, damit ältere Menschen sich nicht bedrängt fühlen und ein Dialog entstehen kann oder möglich bleibt?

«Es ist sehr hilfreich, sich in die Mutter oder den Vater hineinzuversetzen», so Rolf Jud. «Was fühlt der ältere Mensch? Welche Bedürfnisse stecken dahinter?» Fragen dieser Art fördern das Verständnis. Wichtig ist, diese Gefühle und Bedürfnisse nicht zu bewerten. Sie haben ihre Berechtigung.

Als Angehörige können Sie …

  • eigene Sorgen ausdrücken und eine Bitte aussprechen – zum Beispiel so: «Du bist ein wichtiger Mensch für mich und ich möchte, dass es dir gut geht. Wenn du aber auf die Leiter steigst, habe ich Sorge, dass du herunterfallen und dich verletzen könntest. Bitte lass uns nach anderen Wegen suchen, wie die Sträucher im Garten in Zukunft beschnitten werden können.»
  • Ihren Eltern Hilfe anbieten, ohne sie zu bevormunden. Zum Beispiel so: «Sag mir gern Bescheid, wenn du einen Rat von mir möchtest.»
  • auf Forderungen verzichten, denn Forderungen setzen ältere Menschen unter Druck.

«Das erfordert viel Toleranz gegenüber anderen Sichtweisen und Respekt vor dem Gegenüber», sagt Rolf Jud. Doch es lohnt sich, denn es entsteht ein entspanntes Gespräch. In einer solchen Atmosphäre können auch schwierigere Probleme gelöst werden, zum Beispiel wenn die Mutter zu Hause kaum noch zurechtkommt und die Frage im Raum steht, ob ein Umzug in eine Institution mit betreutem Wohnen oder in ein Altersheim sinnvoll ist. «Was könntest du dir vorstellen?», lautet dann die Frage. Und auch die Ich-Botschaft ist wichtig: «Mich würde beruhigen, wenn …»

Wo Angehörige Hilfe finden

Die Unterstützung von älteren Menschen im Alltag ist eine Aufgabe, die viel Kraft erfordert. Die Aufgabe wird noch herausfordernder, wenn die erwachsenen Kinder und ihre Eltern unterschiedliche Auffassungen über das haben, was nützlich ist. Es ist wichtig, Unterstützungsangebote in der Region zu nutzen. So können Sie sich beraten lassen oder sich bei pflegerischen Aufgaben Entlastung suchen, wie Mahlzeiten, Fahr-, Administrations- oder Reinigungsdienste. Dies ermöglicht es, mehr Zeit mit dem älteren Menschen zu verbringen.

Tipp, um selber besser mit der Situation klarzukommen

Kinder haben nicht die alleinige Verantwortung für ihre Eltern. Ältere Menschen sind auch für sich selbst verantwortlich. Dieser Gedanke entlastet. Rolf Jud: «Natürlich wünschen erwachsene Kinder sich, dass ihre Eltern in möglichst grosser Sicherheit leben. Doch letztendlich können wir nicht für sie bestimmen und müssen mit einem Risiko leben.»

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